Die Verbildlichung von Kindheit in der
Reformpädagogik
Virtueller Campus Pädagogik - WS 2004 – 2004
Modul „Reformpädagogik“,
Institut für Pädagogik und Schulpädagogik, Abteilung Allgemeine Pädagogik, Universität Bern,
Freitag den 29. Okt. 2004
Institut für Pädagogik und Schulpädagogik, Abteilung Allgemeine Pädagogik, Universität Bern,
Freitag den 29. Okt. 2004
Das Buch vom Kinde
Im Jahre 1907 erschien in dem wissenschaftlichen Verlag B.G. Teubner 'Das Buch vom Kinde, ein Sammelwerk für die wichtigsten Fragen der Kindheit unter Mitarbeit hervorragender Fachleute herausgegeben von Adele Schreiber.’ Ein ganz grosses Ereigniss war dies zur Zeit freilich nicht: obwohl es in der pädagogische Presse einen grossen Anklang fand, wurde das teure, zweibändige Werk nicht nochmals herausgegeben. Das Buch bot kaufkräftige Eltern ein einmaliges Kompendium von zeitgenössischem Wissen und genauso zeitgebundene Werte bezüglich Kinder und deren Erziehung. Mit dem starken Akzent auf medizinisch-hygienische bzw. körperliche Erziehung unterschied es sich weder konzeptionell noch inhaltlich wirklich von denjenigen Ratgebern, die zumindest seit dem 17. Jahrhundert vermarktet worden sind. Auch mit seine Wahl für das individelle Kind und dessen spontane schöpferische Tätigkeit, sowie mit seine Vorliebe für Tanz, Sport, Handwerk und freies Spiel in der Schule, stand das Werk in eine ganz lange Tradition (OELKERS 1989) Denn Forderungen nach eine grundsätzliche Erneuerung der Pädagogik wurden auch damals schon seit eh und je gestellt, genauso wie die immer 'alte’ Erziehung und die 'alte’ Schule als dazu unfähig beschimpft wurde: „Die heutige Gärtner im Kinderland müssen Feinde sein allem Erziehungs-despotismus, allem Brechen und Knechten der Jugend, aller Dressur, allem schablonenmässigem Drill. Das ehemals verbotene Wort in der Kinderstube, die ewig wiederkehrende Frage des Kindes nach dem WARUM wird heute zum Ausgangspunkt fruchtbringender Saat. Menschen sollen erzogen werden, nicht blinde Sklaven, Menschen, fähig, aus Erkenntniss und Überzeugung, auf Grundlage von Belehrung und Aufklärung das Rechte zu tun“ (SCHREIBER 1907, S iii-iv, dazu OELKERS 1989; 1995a). Mit solche und ähnliche Versprechen machte sich Das Buch vom Kinde genau genommen aber selber ganz 'schablonenhaft’, indem es alle Ängste und Hoffnungen die dem Menschen des vorletzten fin de siècles beschäftigten, monokausal mit ganz starken, auch jetzt noch äusserst wirksamen Klischees von Kindheit, Schule und Erziehung verknüpfte. Eine Analyse eines solchen Erziehungsratgebers aus der Blütezeit der sog. Reformpädagogik wäre gerade deswegen für uns Relevant, indem sie aufzeigen könnte, welche Erwartungen an der Pädagogik gestellt wurden und werden, und welche Art von Kinder dabei vorausgesetzt werden – und werden müssen (vgl. dazu OELKERS 1995b). Als kaum ein anderer seiner Art schlägt Das Buch vom Kinde dabei den ganzen Bogen, indem das Kit, das dem ganzen Chaos einer wissenschaftlichen Betrachtung des Kindes zusammenhalten muss, die Kunst ist, schöne Bilder von schönen Kinder. | ||||
der kommune, ca. 1893 |
Für diese Ausgabe hatte die Herausgeberin u.a. den berühmten Illustrator Hugo HÖPPENER engagieren können, jene Zeichner den Sie vielleicht kennen unter seinem Pseudonym FIDUS. Gemäss des Diktums, dass das Gute am besten durch das Schöne emporgehoben wird, war es dieser FIDUS der dafür Sorge trug, dass das Äussere des Buches genau dem Inhalte entsprach. Zudem verfasste er für diesen Band, ganz unüblicherweise, einem Texte über die Schönheit des Kindes (HÖPPENER, 1907). Über die Bedeutung dieses Jugendstil-Künstlers für die Kulturgeschichte lässt es sich gewiss streiten, für ein gutes Verständnis der Geschichte der Reformpädagogik sind seine Zeichnungen aber unerlässlich. Denn die Bilder von FIDUS – so wenigsten hoffe ich Ihnen zu zeigen – stammen nicht bloss aus der Zeit der Reformpädagogik, sie SIND Reformpädagogik.
Zusammen mit dem äusserst
seltenen Texte und der Gesamtheit des von ihm gestalteten Buchbandes
erzählen sie uns, was für Hugo HÖPPENER, stellvertretend für seine
Generation, in Sachen Pädagogik um 1900 die wichtigsten Vorannahmen und
Forderungen waren, und welches Bild vom Kinde dabei eingesetzt wurde.
Gerne möchte ich Ihnen diese pädagogische Ästhetik darum in den
nächsten zwanzig Minuten in drei und ein halber Schritt vorzuführen
versuchen.
|
|||
Fidus Hugo HÖPPENER alias FIDUS galt und gilt, wie gesagt, als einer der wichtigsten Vertretern der Jugendstil, eine einflussreiche Strömung in vor allem der angewandte Künste um die vorletzte Jahrhundertwende. Ursprunglich war diese Jugendstil ein Versuch, der moderne Mensch mit der Hilfe angeblich schöner Bilder und organischer Formen zu seinem Würzeln zurückzuführen, ihm wieder mit der Natur, mit seiner Geschichte in Kontakt zu bringen. Bekannt ist die typische Formsprache der Jugendstil paradoxerweise aber vor allem durch ihre Anwendung in der Architektur der Grossstadt, durch massenangefertiges Porzellan und die erste grosse Werbekampagnen (ARNASON 1986; SCHORSKE 1981; WESSENBERG 1999). William MORRIS, Führer der verwandte Arts and Crafts-Movement, beschrieb in seinem Buche News from Nowhere 1890 die Utopie einer ländliche Gemeinschaft in der die BewohnerInnen ein einfaches Leben mittelalterlichen Stils zu führen versuchten. Dutzende solcher Siedlungen wurden in den nächsten Jahrzehnten in ganz Europa gegründet, welche zwar die unterschiedlichsten Idealen verfolgten, alle aber auf ähnliche Art und Weise die Einfachheit eines Natur-nahes, eines bäuerlich-handwerkliches Leben betonten (u.a. KRABBE 1974, VISSER 1994). Selbstverständlich lebte auch FIDUS in eine solche Kolonie, und zwar in jene berühmte Siedlung in Friedrichshagen, südöstlich von Berlin. Mit einige seiner Mitbewohner, darunter die 'Volkserzieher' Wilhelm BÖLSCHE und Bruno WILLE, zeitweilig aber auch den Theosophen Rudolf STEINER und den Anarchist Erich MÜHSAM formte er dort der sog. Friedrichshagener Dichterkeis, ein künstlerisch-literarischer Zirkel von internationaler Bedeutung. Dort auch wagte sich FIDUS an Schrifstelerei und Poesie und malte; bekannt wurde er aber vor allem als Zeichner, als der Illustrator unzählicher Bücher, Broschüren und Poster, Bilder die, als er berühmt war, auch als Postkarte millionenfachen Verbreitung fanden. |
Die Beichte,
1894
| |||
Alle zeigen FIDUS’ Bilder
zuvorderst Menschen, anfänglich noch gekleidete, später vor allem
nackte Menschen, im Regelfall in einer natürlichen oder
quasi-natürlichen Setting. Menschlich an diese Menschen sind
ihre Emotionen, ihr Trauer, ihre Freude oder ihre sublimierte Lust.
Ihre Körper aber wurden zunehmend nach griechischem Modell stilisiert –
makellos, in perfekte Verhältnisse, 'schön’ und gesund. Auch in den
vielen Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen herrscht erst und
vor allem Harmonie, das heisst, Freude, Wohlwollen, Innigkeit, eine
Einstimmigkeit die nicht beeinträchtigt, sondern gerade ermöglicht wird
durch eine klare Rollenverteilung zwischen Männer, Frauen und meist
lächelnde Kinder. Einsame Naturfreude, Freundschaft, Liebe, Kooperation
und Kameradschaft, und nicht zuletzt auch pädagogisch besetzte
Beziehungen – Mutter und Kind, Mentor und Zögling, Mann und Knabe-
waren Dauerthemen in FIDUS Werke. Alle seine Zeichnungen, auch die
winzigsten Ornamente lassen sich somit auch jetzt noch lesen als kleine
Predigten einer neuheidnischen Mönch, Emoticons einer
Naturreligion des Kindes und des Körpers.
|
||||
Kind als Natur Erziehung ist –ganz grob gesagt- ein Additiv zum unvermeidlichen Wachstums eines Menschen. Sehr oft wurde und wird die Notwendigkeit, abhängige, schützbedürftige Wesen auf dem Wege zu selbständige, moralisch handelnde Menschen zu begleiten von daher in eine biologischen Metapher beschrieben. „Es gilt“, so heisst es zum Beispiel in dem Buch vom Kinde, „körperlich und geistig die besten der vorhandenen Keime der jungen Menschenpflanze zur Entwicklung zu bringen, die nützlichen und schönen Triebe so zu stärken, dass sie in üppigem Emporschiessen die hässlichen Keime ersticken.“ (SCHREIBER 1907, S. iv)
Diese und ähnliche Vorstellungen
prägen die Geschichte der Pädagogik zumindest seit der Erscheinung von
Rousseau’s Emile, Mitte des 18. Jahrhunderts. Als dieses starken
Sinnbild von Kindheit und Erziehung um 1900 mit einem grossem comeback
anfing, war es immer noch, aber sicher nicht nur metaphorisch gedacht;
Schnelle Veränderungen in der Kultur und der Wirtschaft hatten zu Ende
des neunzehnten Jahrhunderts bei vielen ein ungemächliches Gefühl
bewirkt. In der Konfrontation mit der modernen Massengesellschaft,
welche sich im letzten Viertel des Jahrhunderts zu entwickeln begann,
optierte eine kleine, aber äusserst öffentlichkeitwirksame Elite für
eine Flucht nach hinten. Wirklich modern, so diese kulturelle Avant
Garde, war eine Neuorientierung auf die Natur, auf die Quelle
alles Lebendigen (vgl. u.a. KNOBLAUCH 1994; KRABBE 1984; ROMEIN 1967).
Für sie, aber auch für diejenigen die sich ein solches 'natürliches’
Leben nicht leisten, oder die Naturkost schlicht nicht verdauen
konnten, rückte das Kind als zugleich Symbol von und Hoffnung für das
'Natürliche“ in einer „kulturlichen“ Welt aufs neue ins Zentrum der
Aufmerksamkeit; Dieses Kind zu schützen, es sich in einem
sprichwörtlichen Kindergarten hinter einem hohen Zaun frei entfalten zu
lassen, wäre nicht nur die 'Natur’ des einzelnen Kindes angemessen,
sondern käme auch die 'Natur’ als Ganzes, die Zukunft der menschlichen
Gattung zugute. In einem solchen Kontexte wurde 'Kind’ schliesslich
quasi gleichbedeutend mit 'Natur’, wobei dieses überdeterminierte
Begriff der 'Natur’ zugleich ein Synomyn war für die Zukunft, das Volk,
die Rasse, der Herrgott oder irgeneiner andere übergeordnete, religiös
aufgeladene Grösse (vgl. Enders 2002; VISSER 1998; ).
Schon seit dem 18. Jahrhundert hatten die christlichen Religionen, zumindest in intellektuellen Kreisen einiges an Rückhalt verloren. Der Aufstieg von politischen Bewegungen wie dem Liberalismus und dem Sozialismus, vor allem aber auch die sichtbaren Erfolge der Naturwissenschaften führten dann im 19. Jahrhundert allmählich dazu, dass das Christentum in Europa auch im Volke ihre Legitimität als Hüter von Moral und Sitte, als Quelle der Erziehung zu verlieren began (vgl. CHADWICK 1991; MCLEOD 2000; VISSER 2004b). Die Suche nach einen alternativen, zeitgemässeren Stütze für gutes Handeln stellte sich aber als viel schwieriger heraus als manche sich dies vorgestellt hatten. Es is zwar durchaus möglich, sich auf eine wissenschaftliche Ebene mit Fragen der Ethik und der Moral auseinanderzusetzen; eine eindeutig belegbare, wissenschaftlich fundierte Ethik gibt es aber prinzipiell nicht. Verkrampfte Versuche, wider besseren Wissens eine Ethik auf der Grundlage der Naturwissenschaft aufzustellen, führten um 1900 zu Mischgebilden, einer unzähligen Reihe von angeblich neuen Weltanschauungen auf der Kippe zwischen zeitbedingtem Wissen und vagem Glauben Nicht zufällig wurde in wird auch in dieser sogenannte 'wissenschaftlichen Weltanschauungen’ das Gute in der Regel gemessen an dem Mass, indem es mit der 'Natur’ oder, je nach Geschmack, mit dem 'Weltall’ oder dem 'Kosmos’, im Einklang sei. Die Suche nach einer neuen Moral für neue Menschen kulminierte somit in das genau Gleiche wie die moderne Formen des Protestes gegen die moderne Gesellschaft: die Vergötterung des Kindes als Inbegriff des natürlichen, des unverdorbenen Menschen. Die alte Metapher der Kindergärtner schien um 1900 von daher aktueller als je, zumal Biologen und Medizinern, neuheidnische Guru’s und andere PädagogInnen damals fest zu wissen meinten, wie alles Unkraut definitiv zu jäten wäre. Nicht zufällig sind alle diese Gruppen und Grüppchen in dem Buch vom Kinde vertreten, und plädieren sie alle für eine Erziehung vom Kinde aus, für ein aktives und körperbetontes Curriculum also, für eine allgemeine Gesundung von Individuum und Gesellschaft durch Sport und Pflege sowie durch Eugenik und Rassenhygiene. (VISSER 1998; 2004a; 2004b; WEISSER 1995).
Haeckel's
Kunstorrmen der Natur
|
||||
Kind als
Körper 1:
Schönheit Wie viele seiner Genossen in der Friedrichshagener Wohngemeinschaft war FIDUS ein Monist, ein Anhänger der Weltanschauung des deutschen Anti-Papstes Ernst HAECKEL. Dieser Zoologen hatte schon in den 1860rn seine eigene Forschungen zu Meerestieren mit den Schiften von DARWIN, GOETHE UND SPINOZA kombiniert, und daraus eine eigene Philosophie 'gebastelt’ der die ganze Welt von Alpha bis Omega zu erklären vorgab, und der als Ersatz für den christlichen Glauben zu dienen gedacht war. An der Stelle des einen Gottes hoben HAECKEL und seine Monisten die allumfassende Einheit der gesammten Kosmos hervor, in dem der Unterschied zwischen Geist und Materie, Körper und Seele aufgehoben, für nonexistent erklärt wurde (HERMANS 2003; VISSER 2004b; 2005). Ungleich viele seiner Jünger war der HAECKEL keineswegs ein weltfremder Schwärmer, sondern ein Naturwissenschaftler von Namen, der auch empirisch dargelegt zu haben glaubte, dass alles in der sichtbare Welt durch eine und die gleiche 'Weltseele' in Richtung Harmonie gesteuert wurde. Erst nach seinem Tode stellte sich heraus, der Herr Professor hatte dabei zwar nicht gelogen, seine Forschungsergebnisse dennoch fast unmerkbar, vielleicht sogar unbewusst an seine ganz personliche Vorstellungen angepasst. HAECKELs berühmte Skizzen über die Kunstformen der Natur, so prägend für die Bildsprache der Jugendstil, zeigen eine perfekte Symmetrie auf, eine geometrische Gleichheit die es in der wirklichen Natur schlicht und einfach nicht gibt (KRAUSSE 1995). |
||||
Dreisamkeit:
Die Familie als Ort des Göttlichen
|
Selbstverständlich waren sich
FIDUS und viele der anderen AutorInnen des Buches vom Kinde sich diese
Fälschung der Natur zur Zeit selbstverständlich nicht bewusst. Es
stellt sich die Frage, ob sie dies gewusst haben wollten: Die Tendenz,
die Natur zu vergöttlichen, und somit auch dem eigenem Bilde anzupassen
war und ist, sicher auch in einem pädagogischen Kontexte äusserst
stark.
Das zeigt sich u.a. im
Titelbilde der FIDUS für seinem eigenen Texte über die Schönheit des
Kindes verfasste. Es stellt ein augenscheinlich alltägliches Bild eines
Elternpaares dar, dass ihrem kleinen Jungen das Laufen lernt. Nicht nur
der Rahmen, der im typische Jugendstil etwas Organisches, Gewachsenes
repräsentiert, sondern auch die Hauptdarstellung ist fast perfekt
symmetrisch. Die beide Eltern, die zwar Bewegung andeuten, en
profil aber ein wenig statisch daher kommen, bilden mit ihren
Zähen eine zärtliche Zweieinheit. Auch zu dritt, das Kind genau in der
Mitte, gibt es alles nur Harmonie; Die eher schlecht proportionierte,
stark androgyne und äusserst Germanische Eltern sind genau gleich
gross, genauso wie der wackelde Bub in Stehen auf genau gleicher Höhe
mit Papa und Mama ist.
Mit seine küschelige Dreisamkeit referiert dieses häusliche Gruppenbild ganz offensichtlich auch an eine andere, an eine göttliche Harmonie. In einer Zeit in der die christliche Ikonographie unendlich viel stärker präsent war als Heute wird kaum jemandem die Gleichniss des Bubens mit dem Christkinde, die ähnlichkeit dieser Kernfamilie mit der Heilige Familie entgangen sein. Mithin wäre das das Bild auch als eine neuheidnische Variante auf dem Thema der Dreifaltigkeit zu lesen: Vater, Sohn und der heilige Geist, wobei letztgenannter nicht zufällig als weibliches Prinzip, als Mutter, als Ursprung des Lebens dargestellt worden ist. Mit einem blossen Darstellung eines drolligen Bubes der vorsichsich seine erste Schritte macht schlägt FIDUS so den Bogen von Individualität und Körperlichkeit nach eine göttliche Ordnung. Wir Müssen, schreibt er: „uns allmählich wieder daran gewöhnen, den Menschenleib als das sichtbare und greifbare Ebenbild Gottes in jeder Beziehung und in allen seinen Gliedern zu verehren und zu veredeln. Unser Leib soll uns wieder – oder endlich – das entwickeltste und reinste Gefäss der göttlichen Natur und das gefügigste Werkzeug göttlichen, d.h. seiner innerster Natur selbstbewussten Willens werden“ (HÖPPENER 1907, S 1-2). | |||
Kind als Körper 2:
Sexualität
Das Einzige, dass im soeben behandelten Bilde offensichtlich dem Gleichgewichte stört ist dieses Ding da ganz im Zentrum, der Geschlechtsteil dieses Buben. So sichtbar deutet seinem Penis natürlich zuerst seinem Geschlecht, seinem Männlichkeit an. In anbetracht der Zeit sowie in Hinblick auf dem Texte des FIDUS, spielt das unruhige Pimmelchen aber auch an auf die Debatte die zu Derzeit über die Sexualität von Kinder und andere Menschen um das heftigste geführt wurde (vgl. VISSER 2004b; 2005). FIDUS war nicht nur ein selbsernannter Naturmensch, er war auch ein Naturist, ein Nacktläufer. Seinem pathetischen Spitzahmen stammt aus jener Zeit als er, stellvertretend für seinem Mentor, zwei Wochen im Gefängniss verbracht, weil dieser in München die offentliche Ehrbarkeit geschändet haben sollte. Nebst Abstinenz von Alkohol, Nikotin, Fleisch und Gewürze, sowie eine bewusste Wahl für Naturkost, Naturheilkunde und Gymnastik, gehörte auch die sog. Freie Körperkultur zu dem Milieu, in der FIDUS únd die frühe Reformpädagogik gross wurden. Auch Kinder die in reformpädagogische Anstalten gesteckt waren um dort frei wachsen zu dürfen, waren dazu verpflichtet alles dies, inklusive die FKK voll mitzumachen. Natürlich war all dieses Üben und Verzichten zuerst dazu gedacht um das Kind mit der Natur in Einklang zu halten, und zweitens um Körper, Geist und Willen der Zögling zu stärken. Unterschwellig, manchmal aber auch offen spielte Körperlichkeit, spielte die Sexualität, deren Unterdruckung bei Kinder únd Erwachsenen bei alle diese Praktiken eine wichtige Rolle (vgl. BIEG 2004; YAMANA 2004). |
||||
Nacktlaufen war
und ist eine der wenigen Privilegien der Kleinkinder
vergönt is, und zwar weil sie angeblich 'unschuldig’, 'rein’, sich ihre
Sexualität nicht bewusst seien. Genau das auch war und ist das Argument
der Naturisten: Gewöhnung an Nacktheit würde auch und gerade unter
Erwachsenen das Körper desexualisieren und das Libido sublimieren. Es
ist dabei wichtig zu betonen, dass sich die Lebensreformer aus dieser
Zeit in eine ganz komplizierte Situation befanden: Weil sie Gott als
Leitbild durch die Natur ersetzt oder zumindest damit gleichgesetzt
hatten, waren Sexualität und Körperlichkeit erst recht ein Thema
geworden. Weil eine 'Befreiung’ der Lust in unseren heutigen Sinne aus
verschiedenen Gründen damals weder möglich noch erwünscht war, galt es,
die Schönheit der natürlichen, reproduktiven Sexualität hervorzuheben,
nicht-reproduktive Sexualität aber irgendwie aus dem Buche der Natur,
aus dem Buche des Kindes zu streichen (v.a. CARTER 2001; LYNNE STEWART
1998; MORAN 2000) Reformpädagogen wie STEINER und vor allem MONTESSORI
zogen es darum vor, gänzlich über das Thema zu schweigen. Andere
schrieben Kinder Naturkost, Sport, harte Matrazen und Reformunterhosen
vor in der Hoffnung damit das grosse Laster der Masturbation
vorzubeugen (BIEG 2004; YAMANA 2004) FIDUS, Mitglied des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform war gewiss viel weniger prüde. Auch wen man Erziehung als "wachsen lassen" interpretiert, so schreibt er, so ist doch und gerade “bewusste Körperlichkeit“ eine der wichtigsten Ziele, „Freude der Leiblichkeit“ an der Stelle „falscher Schamhaftigkeit.“
"Es ist eine schwächliche Art
von Reinheit und Unschuld, die nur in kindlicher Unberührtheit und
Unwissenheit gefunden werden sollte um möglichst auch im Erwachsenen
gewahrt werden wüsste. Nein, wahre Göttlichkeit, wahre Schönheit ist
Bewusstheit, und höchste Unschuld und Reinheit ist der reine und vom
Irrtum freie Wille ohne Angst für „unreine“ Berührung." (HÖPPENER
1904, S. 3-4)
| ||||
Auch und sogar in diesem
vorsichtigen Plädoyer für einer weniger verklemmten Umgang mit dem
Körper und vor allem die Sexualität Erwachsener spielt dat Kind die
Rolle der Deus ex Machina: „Wenn auch nur Brücke zu
höherem, so ist doch das Kind und sein Körper die derzeit
nächstliegende Möglichkeit, mit der Wiedergeburt und Neuerziehung zum
bewussteren Leben zu beginnen [..]“ (ebd. S. 4). Das aber ist
genau genommen keine Pädagogik sondern Theologie, eine
Erlösungsgeschichte in der aus jedem Kinde wortwörtlich ein Christ
gemacht wird, dessen Corpus nicht gespeist sondern in seinem
Unversehrtheit und Unbefangenheit einem höheren Art von Menschen zum
Vorbilde dienen sollte.
| ||||
Kind als Gott
Einer seiner treuesten Fans
fand FIDUS in der Berner Oberländer Werner ZIMMERMANN. Anfangs des 20.
Jh hatte dieser Volksschullehrer schon einem bescheidenen Nahmen
gemacht als Scribent für die Berner Schulblätter und die
Zeitschrift "Schulreform". Dieses pädagogische Engagement
kulminierte 1922 in der Veröffentlichung von "Lichtwärts – ein Buch
erlösender Erziehung,“ das als einer der Höhepunkte der schweizer
Reformpädagogik gelten kann (ZIMMERMANN 1922, dazu ITO 2004). Nicht das
ZIMMERMANN vieles neues oder anderes zu bieten hatte: seine 'erlösende’
Erziehung ist im Wesentlichen die genau gleiche wie die des FIDUS und
des Buches vom Kinde. Zwar hatte der Berner sich ziemlich früh mit den
Schriften Sigmund FREUDs auseinandergesetzt, eine wesentlich andere
Perpektive auf Kindheit oder frühkindliche Sexualität enstand daraus
aber auch nicht. Mit seine Vermischung von praktische Erfahrung und
konsequente irrationalität, der Anwendung der direkte Rede und dem
schweizerdeutscher Charme, und nicht zuletzt mit dem berühmten Bilde
von FIDUS ist und bleibt das Buch aber einzigartig in der schweizer
Geschichte.
In widerwillen alles Bösartige in seiner Zeit wollte ZIMMERMANN die
Kinder zu 'sonnige’ Menschen erziehen:„Der innere Friede ist’s, der aus ihnen leuchtet. Sie wissen nichts von seelischer zerrissenheit oder haben sie überwunden, haben die streitende Gegensätze lichtvoll vereinigt. Sie sind restlos eins mit sich selbst, mit ihrem ureigensten Wesen, ihrem göttlichen Kern, ihrem Gewissen. Sie tun jederzeit in selbstverständlicher Naturhaftigkeit, was ihre gute Stimme sie heisst“ (ZIMMERMANN 1922, S. 11). | ||||
Eine Erziehung die dieses reinen
Gluck zum Ziele hatte, enthielt auch bei ZIMMERMANN alle jene Elemente,
die uns schon begegnet sind: freies Wachsen unter eher strengem Zucht,
eine Obsession mit Hygiene und Körperlichkeit sowie eine
Instrumentalisierung der Erziehung für eine totale Gesellschaftsreform.
Damit lag der unbekannte Berner Lehrer sozusagen voll im Trend der
damaligen Reformpädagogik: viele der bekannteren, sogar die
bekanntestes der klassischen Reformpädagogen argumentierten – wie sie
im Laufe dieses Kurses noch sehen werden – nicht wesentlich anders als
dieser Exzentriker, oder eben als der pädophile FIDUS (vgl. OELKERS
1989; 1995). Über die Absichten aller dieser ReformpädagogInnen, über
die Ziele ihrer Erziehungsutopien mag ich an dieser Stelle nicht
Urteilen. Auch über ihre Überbetonung der Biologie, ihre Prüderie und
Hygienophobie sowie ihre Anfälligkeit für sozialtechnologische bis hin
zu totalitären Phantasien wollte und will ich hier nicht sprechen (vgl.
VISSER 2004b; 2005). Was mir wichtig ist, ist das Sie sehen, oder sehen
lernen, wie 'das Kind’, das abstrakte Kind auch in der Bildsprache
eingesetzt wurde und noch immer wird, um das unmögliche Möglich zu
machen, das gebrochene Ganz, Welt und Mensch wieder heil und Heilig.
Kinder sind zwar die Zukunft, sie werden diese aber nur dann 'richtig’,
d.h. nach den unsrigen Wünsche schaffen indem sie rein bleiben der
unsrigen Sünden. Eine solche Auffassung von Erziehung setzt eine Art
'heiliges' Kind voraus, das sich unter den bestmöglichen Bedingungen
quasi aus sich heraus zum höchst denkbaren, nämlich zum 'neuen'
Menschen herausbilden sollte. Eine solche Erwartung, die einem Transfer
maximalistischer Werte auf konkrete Erziehungssituationen beinhaltet,
wird keiner von Ihnen aber je erfüllen, weil sich Harmonie und
Symmetrie in der wirklichen Welt reeller Kinder eben nicht so ganz
leicht auffinden lässt.
Utrecht / Bern Oktober 2004 |
||||
|
Geen opmerkingen:
Een reactie posten