Maria Montessori - Kinder sind anders. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 1987, S. 187-211 (Italienisches Original 1938,
herausgegeben 1950).
Analyse des
Textes anlässlich des Moduls "Kinder, Jugendliche und Pädagogik";
Virtuelle Campus Pädagogik / Universitäre und Kantonale Lehrerinnen-
und Lehrerbildung Bern, SS 2004
Vorverständniss
Zweifelsohne gehört die
italienische Pädagogin Maria
Montessori (MM) zu den bekanntesten VertreterInnen der
(Reform-)Pädagogik des 20. Jahrhunderts. Ob sie dies tatsächlich dem
von ihr geleisteten Beitrag zur pädagogischen Wissenschaft verdankt,
ist freilich offen; sicher ist aber, dass MM zeitlebens nichts
unterlassen hat, sich als eine ‚Grosse Pädagogin' zu inszenieren, ja,
sogar gezielt auf einen Kultus ihrer Persönlichkeit hin gewirkt hat
(v.a. Schwegmann 1999, 126ff). Eine seriöse Auseinandersetzung mit der
Person, den pädagogischen Theorien und Praktiken MMs wurde und wird
durch diese Mythologisierung stark erschwert. Für eine grosse Schar
‚gläubiger' MontessorianerInnen, wie auch für eine noch immer wachsende
Zahl verunsicherter Eltern stand und steht ‚Montessori' für ein
Markenzeichen vermeintlich progressiver, kindgerichteter, alternativer
Schulerziehung. Eine kritisch-distanzierte Analyse der
Montessori-Pädagogik war somit bis vor kurzen kaum angesagt, und
angesichts des grossen Widerstands zudem ziemlich schwierig (Böhm 2003,
74).(1)Auch jetzt noch
verwehrt die Assoziatione Montessori Internazionale zu Amsterdam,
ForscherInnen den Weg ins Archiv...
Mythen und Theorien
Was auch immer Biographien
und Internetseiten
alles behaupten mögen: MM war nicht die erste promovierte Ärztin
Italiens, hat die Casa dei Bambini zu Rom keineswegs selber gegründet
und hat dort letztendlich auch nur knappe 4 Jahre gearbeitet. Ihre
Ansichten auf Kinder und Erziehung waren auch zu ihrer Zeit alles
andere als ‚neu' oder gar ‚revolutionär'; innovativ war in dieser Zeit
zuvorderst MMs Methode, schlicht ‚Die Methode' ( il metodo )
genannt. Im Grunde genommen bestand und besteht diese Didaktik (!) aber
aus einer Adaption und Weiterentwicklung gewisser, von den
französischen Heilpädagogen Seguin konzipierten Lernmaterialien für den
Regelunterricht (alles: Böhm 2003).
Wesentlich, dann, für die Pädagogik Montessoris ist ihr Wissenschaftsverständnis (I), sowie ihre Sicht auf Mensch und Gesellschaft (II). Trotz mehrerer politischer und weltanschaulicher Wandlungen und Krisen, ist MM sich in ihrem langen Leben diesbezüglich ziemlich treu geblieben: mit ihrem frühen pädagogischen Werk „Antropologia pedagogica“ (1910)(2) als Fundament, zeigen sich MMs Anschauungen über die Jahre hinweg als äusserst konstant (Böhm 2003; Hofer 1994).(3)
Wesentlich, dann, für die Pädagogik Montessoris ist ihr Wissenschaftsverständnis (I), sowie ihre Sicht auf Mensch und Gesellschaft (II). Trotz mehrerer politischer und weltanschaulicher Wandlungen und Krisen, ist MM sich in ihrem langen Leben diesbezüglich ziemlich treu geblieben: mit ihrem frühen pädagogischen Werk „Antropologia pedagogica“ (1910)(2) als Fundament, zeigen sich MMs Anschauungen über die Jahre hinweg als äusserst konstant (Böhm 2003; Hofer 1994).(3)
1) Wissenschaft
Massgebend für die wissenschaftliche Ausgangspunkte, sowohl der Ärztin als auch der Pädagogin MM, war die im 19. Jahrhunderts vorherrschende Lehre des Positivismus. Dieser Positivismus glaubt, die Welt durch genaue Beobachtungen (Messen, Testen, etc.) präzise beschreiben zu können. Anhand dieser Beobachtungen sollten WissenschaftlerInnen imstande sein, die allgemeinen Gesetze, nicht nur der natürlichen, sondern auch der sozialen Welt aufstellen zu können. Mit der Hilfe dieser Gesetze, so diese OptimistInnen, wäre es zudem möglich, die Zukunft wenn auch nicht vorherzusagen, so doch in erheblichem Masse (technisch) zu steuern.
Als Tochter ihrer Zeit und als Fachfrau war MM diesem Positivismus zeitlebens ganz und gar zugetan. Bis zu ihrem Tode war sie der festen Überzeugung, dass Fortschritt, auch und gerade im sozialen und erzieherischen Bereich eine Frage der richtigen Beobachtung und der dazu angemessenen Technik war. Prägend für ihre Vorstellungen von Erziehung waren zudem die in ihrer Studienzeit ‚boomenden' Wissenschaftszweige der Evolutionsbiologie, der ‚Rassenkunde' und der Pädologie (4), auf die in der "Antropologia Pedagogia" MMs tiefgehend und positiv Rücksicht genommen wird. Auch der für die Pädagogik Montessoris grundlegende Begriff der ‚Normalisierung' ist hier, in diesem ‚harten' naturwissenschaftlichen Bereich anzusiedeln. Dabei handelt es sich –ganz plastisch – um die Erziehung des Kindes zum ‚normalen' Menschen, und zwar nach den Vorgaben der statistischen Normalverteilung nach Quètelet (Alles: Hofer 1994).
2) Weltanschauung
Nebst dieser eher strengen Wissenschaftsauffassung wurde das Werk Montessoris vom Anfang bis zum Ende geprägt durch ihr Menschen- und Gesellschaftsbild, das sich als religiös bzw. als stark esoterisch beschreiben lässt. Aus einer progressiven katholischen Familie stammend, trat MM 1899 der Theosophischen Gesellschaft bei, einer damals sehr einflussreichen okkulten Bewegung. Zwar hob MM aus taktischen Gründen hin und wieder ihre Treue zum Katholizismus hervor, doch blieb sie die Ansichten dieser Gesellschaft im wesentlichen immer zugetan (Böhm 2003; Oelkers 2003; Schwegmann 1999). Typisch für diese Theosophie (sowie für eine deren Abspaltungen, die Steiner'sche Anthroposophie) ist die Vermischung von verschiedenen (meist fernöstlichen) Lebensphilosophien und Religionen mit christliche Glaubensinhalte und Traditionen, angereichert mit Elementen aus der Alchimie und der (damaligen, positivistischen) Wissenschaft (Knoblauch 1998; Visser 1998). (5)
Für das Menschenbild MMs hiess das konkret, dass sie in jedem Kind einen göttlichen ‚Funken' zu spüren vermochte, sowie ein je eigener (und genauso ‚göttlicher') Bauplan. Die Erziehung zu ‚Selbsttätigkeit' ist im Lichte dieser esoterisch-biologischen Vorannahme zu verstehen: damit jedes Kind die Persönlichkeit entwickeln kann, zu der es quasi vorprogrammiert ist, sollten ErzieherInnen es ihm ermöglichen, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln, und seine Bestimmung zu erreichen (u.a. Montessori 1993, S. 189). Obwohl MM damit au fond zurückgreift auf eine vorwissenschaftliche, zutiefst christliche Denktradition, lehnt sie, wie Rousseau, die Lehre der Erbsünde ab, ja, kehrt sie diese gerade um: Kinder sind ‚heilige' Wesen (Montessori 1993, S. 188, 192 ; dazu Böhm 2003).
In der frühesten Phase ihres Schaffens –d.h. bis sie 1908 berühmt zu werden begann- verstand sich MM als Feministin und Sozialreformerin (Schwegmann 1999). Damals, aber auch in allen anderen Perioden ihres Lebens gründete sich ihre Sicht auf die Gesellschaft auf eine anfangs 1900 populäre biologische Metapher: Mensch, Gesellschaft und Kosmos sind alle gleich, nämlich wie eine Organismus aufgebaut bzw. sollten nach einem solchen organischen (‚organologischen') Modell aufgebaut werden. Sowie ein jeder Organismus funktionell unterschiedliche Teile kennt und trotzdem als ‚Ganzes' wirkt, so kennt auch jede Gesellschaft eine innere Differenzierung die ein ‚harmonisches' Zusammenspiel des ‚Ganzen' ermöglicht. Hat jedes Kind einen ‚göttlicher Bauplan' inne, der dafür sorgt, das es (im Idealfall) wird, wozu es bestimmt ist, so liegt auch der Gesellschaft einen solchen Plan zugrunde, infolge dessen jeder Mensch einen für ihn bestimmten Platz im Gefüge einnehmen wird, bzw. einnehmen werden soll (Böhm 2003; dazu v.a. Harrington 1996).
Auch in dieser im Wesentlichen vormodernen Denkfigur(6) vermischt sich Naturwissenschaft (v.a. Evolutionsbiologie) mit einer unkontrollierbaren Spekulation, mit Religion also. Anzumerken ist zudem, dass diese Art Gleichnis uns eine statische, unveränderbare Gesellschaftsordnung nahe zu legen scheint. Das ist auch der Grund dafür, dass dieses ‚biopolitischen' Konzept auch, aber gewiss nicht nur, von demokratische gesinnten PolitikerInnen hervorgehoben wurde und wird. Auf der Grundlage dieses Konzeptes argumentierend, zeigte sich auch MM selber anfällig für den Gedanken, dem ‚Gesellschaftsorganismus' einen Kopf zu unterstellen, d.h. die Demokratie den Hitlers und den Mussolinis zu überlassen. (v.a. Leenders 1999, Visser 1998). (7)
Massgebend für die wissenschaftliche Ausgangspunkte, sowohl der Ärztin als auch der Pädagogin MM, war die im 19. Jahrhunderts vorherrschende Lehre des Positivismus. Dieser Positivismus glaubt, die Welt durch genaue Beobachtungen (Messen, Testen, etc.) präzise beschreiben zu können. Anhand dieser Beobachtungen sollten WissenschaftlerInnen imstande sein, die allgemeinen Gesetze, nicht nur der natürlichen, sondern auch der sozialen Welt aufstellen zu können. Mit der Hilfe dieser Gesetze, so diese OptimistInnen, wäre es zudem möglich, die Zukunft wenn auch nicht vorherzusagen, so doch in erheblichem Masse (technisch) zu steuern.
Als Tochter ihrer Zeit und als Fachfrau war MM diesem Positivismus zeitlebens ganz und gar zugetan. Bis zu ihrem Tode war sie der festen Überzeugung, dass Fortschritt, auch und gerade im sozialen und erzieherischen Bereich eine Frage der richtigen Beobachtung und der dazu angemessenen Technik war. Prägend für ihre Vorstellungen von Erziehung waren zudem die in ihrer Studienzeit ‚boomenden' Wissenschaftszweige der Evolutionsbiologie, der ‚Rassenkunde' und der Pädologie (4), auf die in der "Antropologia Pedagogia" MMs tiefgehend und positiv Rücksicht genommen wird. Auch der für die Pädagogik Montessoris grundlegende Begriff der ‚Normalisierung' ist hier, in diesem ‚harten' naturwissenschaftlichen Bereich anzusiedeln. Dabei handelt es sich –ganz plastisch – um die Erziehung des Kindes zum ‚normalen' Menschen, und zwar nach den Vorgaben der statistischen Normalverteilung nach Quètelet (Alles: Hofer 1994).
2) Weltanschauung
Nebst dieser eher strengen Wissenschaftsauffassung wurde das Werk Montessoris vom Anfang bis zum Ende geprägt durch ihr Menschen- und Gesellschaftsbild, das sich als religiös bzw. als stark esoterisch beschreiben lässt. Aus einer progressiven katholischen Familie stammend, trat MM 1899 der Theosophischen Gesellschaft bei, einer damals sehr einflussreichen okkulten Bewegung. Zwar hob MM aus taktischen Gründen hin und wieder ihre Treue zum Katholizismus hervor, doch blieb sie die Ansichten dieser Gesellschaft im wesentlichen immer zugetan (Böhm 2003; Oelkers 2003; Schwegmann 1999). Typisch für diese Theosophie (sowie für eine deren Abspaltungen, die Steiner'sche Anthroposophie) ist die Vermischung von verschiedenen (meist fernöstlichen) Lebensphilosophien und Religionen mit christliche Glaubensinhalte und Traditionen, angereichert mit Elementen aus der Alchimie und der (damaligen, positivistischen) Wissenschaft (Knoblauch 1998; Visser 1998). (5)
Für das Menschenbild MMs hiess das konkret, dass sie in jedem Kind einen göttlichen ‚Funken' zu spüren vermochte, sowie ein je eigener (und genauso ‚göttlicher') Bauplan. Die Erziehung zu ‚Selbsttätigkeit' ist im Lichte dieser esoterisch-biologischen Vorannahme zu verstehen: damit jedes Kind die Persönlichkeit entwickeln kann, zu der es quasi vorprogrammiert ist, sollten ErzieherInnen es ihm ermöglichen, sich aus sich selbst heraus zu entwickeln, und seine Bestimmung zu erreichen (u.a. Montessori 1993, S. 189). Obwohl MM damit au fond zurückgreift auf eine vorwissenschaftliche, zutiefst christliche Denktradition, lehnt sie, wie Rousseau, die Lehre der Erbsünde ab, ja, kehrt sie diese gerade um: Kinder sind ‚heilige' Wesen (Montessori 1993, S. 188, 192 ; dazu Böhm 2003).
In der frühesten Phase ihres Schaffens –d.h. bis sie 1908 berühmt zu werden begann- verstand sich MM als Feministin und Sozialreformerin (Schwegmann 1999). Damals, aber auch in allen anderen Perioden ihres Lebens gründete sich ihre Sicht auf die Gesellschaft auf eine anfangs 1900 populäre biologische Metapher: Mensch, Gesellschaft und Kosmos sind alle gleich, nämlich wie eine Organismus aufgebaut bzw. sollten nach einem solchen organischen (‚organologischen') Modell aufgebaut werden. Sowie ein jeder Organismus funktionell unterschiedliche Teile kennt und trotzdem als ‚Ganzes' wirkt, so kennt auch jede Gesellschaft eine innere Differenzierung die ein ‚harmonisches' Zusammenspiel des ‚Ganzen' ermöglicht. Hat jedes Kind einen ‚göttlicher Bauplan' inne, der dafür sorgt, das es (im Idealfall) wird, wozu es bestimmt ist, so liegt auch der Gesellschaft einen solchen Plan zugrunde, infolge dessen jeder Mensch einen für ihn bestimmten Platz im Gefüge einnehmen wird, bzw. einnehmen werden soll (Böhm 2003; dazu v.a. Harrington 1996).
Auch in dieser im Wesentlichen vormodernen Denkfigur(6) vermischt sich Naturwissenschaft (v.a. Evolutionsbiologie) mit einer unkontrollierbaren Spekulation, mit Religion also. Anzumerken ist zudem, dass diese Art Gleichnis uns eine statische, unveränderbare Gesellschaftsordnung nahe zu legen scheint. Das ist auch der Grund dafür, dass dieses ‚biopolitischen' Konzept auch, aber gewiss nicht nur, von demokratische gesinnten PolitikerInnen hervorgehoben wurde und wird. Auf der Grundlage dieses Konzeptes argumentierend, zeigte sich auch MM selber anfällig für den Gedanken, dem ‚Gesellschaftsorganismus' einen Kopf zu unterstellen, d.h. die Demokratie den Hitlers und den Mussolinis zu überlassen. (v.a. Leenders 1999, Visser 1998). (7)
Public relations
Auf dem Niveau der Theorie
vertragen sich die
Wissenschafts- und Weltanschauung MMs nicht, ja, sie schliessen
einander sogar logisch aus. Trotz und dank dieser hybriden
(‚synkretistischen') Grundlage erreichten MM und die von ihr vertretene
Pädagogik aber schon in den 1920rn weltweit eine Art Kultstatus, und
zwar quer durch Nationen, Ethnien, Schichten und weltanschaulichen
Gruppe und Grüppchen hindurch (v.a. Leenders 1999). Eine wohl einfache
Erklärung dafür wäre, dass die angeblich hervorragende Praxis der
Montessoripädagogik deren eher schwache Theorie im Schatten stehen
liesse. Leider aber für die MontessorianerInnen gab und gibt es keine
Studien die unzweideutig belegen können, dass Kinder in einer
Montessorischule besser aufgehoben seien als in der Regelschule (Böhm
2003; Imelmann/Meijer 1986). (8)
Eher müssen wir annehmen dass es das Charisma der MM und ihr Sinn für
public relations war, mit welchen der Bogen zwischen Theorie und
Praxis, Wissenschaft und Glauben öffentlichkeitswirksam geschlagen
werden konnte. Während tausenden von Vorträgen wurde La Dotoressa nicht
müde zu betonen dass sie – und nur sie! – einen wissenschaftlichen
Zugang zum Geheimnisse des Kindes gefunden hatte. Und wer wird wohl
gerne gegen eine berühmte Wissenschaftlerin und Kinderrechtlerin, wer
wird also wohl gegen Kinder argumentieren?
Geheimnisse
Ausgangspunkt des
Textausschnittes von MM ‚Kinder sind
Anders' (im Original: Das Geheimnis der Kindheit) ist die Behauptung,
Kinder würden sich wesentlich von Erwachsenen unterscheiden (Montessori
1993, 187, 192, 198). Von einer naturwissenschaftlich geschulten
Pädagogin und ehemaligen Professorin für pädagogische Anthropologie
könnte mensch dann eine systematische, analytische, auf Faktenwissen
und/oder Theorie gestützte Begründung dieses Axioms erwarten. Dies aber
bietet MM weder im Textausschnitte, noch im restlichen Buche auch nur
ansatzweise. Die These der Eigenart des kindlichen Daseins wird
seltenst, und wenn, dann sehr schwach begründet. Neben dem Bibelwort
„Ich bin nicht von dieser Welt“ (ebd. 195) gilt die angebliche Eigenart
der kindlichen ‚Arbeit' als der wohl stärkste Beweis dafür (ebd.196ff).
Ohne nähere Bestimmung davon, über welche Kinder sie da spricht (Alter?
Geschlecht?) und ohne Definition dieser Art ‚Arbeit' (Spiel?
Denkarbeit? Kinderarbeit?) bleibt MMs ‚Anthropologie' aber nichts als
eine Worthülse.(9)
Zumal, weil diese unbestimmten, geschlechtslosen Kinder au fond
nur als Negativfolie dienen: Kinder sind die Nicht-Erwachsenen,
StellvertreterInnen für die Nicht-Kultur ( ‚Das Kind' als ‚der
Inbegriff eines natürlichen Wesens' (ebd., S. 195)). Kaum geht es
im Texte über konkrete Kinder, stehen sie doch in vielen Sätzen nur als
Symbol für das Heilige in einer bösen Welt. Das aber ist Kulturkritik à
la Rousseau, und nicht eine hinreichende Begründung der Spezifizität
kindlicher Existenz (ebd. 195 198ff, 207, 210).
Diese Lücke ist nicht nur enttäuschend, sondern auch gravierend, denn ohne vorgehende Bestimmung dessen, was das spezifisch Kindliche am Kinde ist, fehlt es einer pädagogischen Theorie schlicht an Legitimation. Es wundert daher nicht, dass der Textausschnitt, der nicht sehr systematisch aufgebaut ist, seltenst wirklich argumentativ hervorgeht und vor allem wegen des Überschusses an Metaphorik stark appellativ wirkt, letzten Endes kaum Substanz hat. Kreuz und quer werden verschiedene Topoi der Montessori-Pädagogik angetönt – selten aber dingfest gemacht. Wichtige Begrifflichkeiten werden nicht definiert oder erklärt, wesentliche Vorannahmen werden nicht expliziert, Verweise auf andere AutorInnen fehlen, Fuss- oder Endnoten gibt es nicht. Auch wenn (oder gerade weil) der Text MMs sehr gut lesbar ist, und vermutlich mit viel Zustimmung seitens der LeserInnenschaft rechnen kann und will, ist er im klassischen Sinne esoterisch: nur wer sich mit den benützten Begrifflichkeiten auskennt und die vielen impliziten und expliziten Annahmen nachvollziehen kann, kann aus dem Texte pädagogisches Brot backen. (10)
Die nicht geringe Zahl an Beispielen aus der Tierwelt mag den wissenschaftlichen Charakter des Textes und dessen Urheberin auf den ersten Blick vielleicht unterstreichen, bei näherer Betrachtung handelt es sich hier aber um eher schwache Gleichnisse, die allesamt höchst fragwürdig, wenn nicht sogar gefährlich sind (naturalistischer Fehlschluss!). Zudem scheint der Text uns damit nahe zu legen, dass ‚Kindheit' und ‚ Erziehung' nur (evolutions-)biologisch und halbwegs religiös, nicht aber soziologisch, psychologisch, kulturell, (etc.) bedingt sind (ebd., v.a. 201-208). Diesen Überschuss an Metaphorik und der Sprachduktus voller überdeterminierter Begriffe wie ‚Natur', ‚Harmonie', ‚Ganzheit', ‚Vollkommenheit' (sie sind wirklich alle da...) vermag dann schliesslich nicht zu verschleiern, dass sich eine nicht unerhebliche Zahl an Paradoxien und unschlüssigen Argumentationen im Texte verbergen. Denn:
Diese Lücke ist nicht nur enttäuschend, sondern auch gravierend, denn ohne vorgehende Bestimmung dessen, was das spezifisch Kindliche am Kinde ist, fehlt es einer pädagogischen Theorie schlicht an Legitimation. Es wundert daher nicht, dass der Textausschnitt, der nicht sehr systematisch aufgebaut ist, seltenst wirklich argumentativ hervorgeht und vor allem wegen des Überschusses an Metaphorik stark appellativ wirkt, letzten Endes kaum Substanz hat. Kreuz und quer werden verschiedene Topoi der Montessori-Pädagogik angetönt – selten aber dingfest gemacht. Wichtige Begrifflichkeiten werden nicht definiert oder erklärt, wesentliche Vorannahmen werden nicht expliziert, Verweise auf andere AutorInnen fehlen, Fuss- oder Endnoten gibt es nicht. Auch wenn (oder gerade weil) der Text MMs sehr gut lesbar ist, und vermutlich mit viel Zustimmung seitens der LeserInnenschaft rechnen kann und will, ist er im klassischen Sinne esoterisch: nur wer sich mit den benützten Begrifflichkeiten auskennt und die vielen impliziten und expliziten Annahmen nachvollziehen kann, kann aus dem Texte pädagogisches Brot backen. (10)
Die nicht geringe Zahl an Beispielen aus der Tierwelt mag den wissenschaftlichen Charakter des Textes und dessen Urheberin auf den ersten Blick vielleicht unterstreichen, bei näherer Betrachtung handelt es sich hier aber um eher schwache Gleichnisse, die allesamt höchst fragwürdig, wenn nicht sogar gefährlich sind (naturalistischer Fehlschluss!). Zudem scheint der Text uns damit nahe zu legen, dass ‚Kindheit' und ‚ Erziehung' nur (evolutions-)biologisch und halbwegs religiös, nicht aber soziologisch, psychologisch, kulturell, (etc.) bedingt sind (ebd., v.a. 201-208). Diesen Überschuss an Metaphorik und der Sprachduktus voller überdeterminierter Begriffe wie ‚Natur', ‚Harmonie', ‚Ganzheit', ‚Vollkommenheit' (sie sind wirklich alle da...) vermag dann schliesslich nicht zu verschleiern, dass sich eine nicht unerhebliche Zahl an Paradoxien und unschlüssigen Argumentationen im Texte verbergen. Denn:
- Wenn das Kind sich tatsächlich aus sich aus heraus ent-wickelt, könnten Erwachsenen doch ganz auf Erziehung verzichten?
- Nun, weil dies dann aber auch nicht so ganz wortwörtlich der Fall ist, sollten Erwachsenen einen Raum schaffen, in der das Kind frei wachsen kann, und sich selbsttätig Wissen aneignen kann. Warum, wie genau und in welchem Masse Erwachsene sich also doch einmischen müssen, wird nicht erläutert (ausser, dass es ‚höher stehende' und ‚ intelligente' Wesen tun sollten (ebd., S. 201)).
- Genauso wenig ist klar, wie die/der ErzieherIn diesen pädagogischen Raum kindgemäss einrichten kann, wenn er/sie nicht weiss und auch nicht wissen kann, was dieses Kind braucht. Denn angeblich kann er/sie das Kind (im Allgemeinen) prinzipiell nicht verstehen, und kann er/sie den ‚Bauplan' jedes einzelnen Kindes wohl nur versuchen zu erraten.
- Ausser, es wäre wirklich so, dass die Methode Montessori der Königsweg zur Entschlüsselung kindlicher Seelchen sei. Dann aber wäre das Geheimnis der Kindheit wohl nicht länger geheim :-)
Die eigenartige Kombination von Wissenschaft und Glauben im Denken MMs steht dann als Garant für unlösbare Spannungen, welche auch in diesem Texte unterschwellig, manchmal auch explizit vorhanden sind. Denn:
- Wie verhalten sich ‚göttliche Baupläne' mit dem angeblich ‚freien Wachsen'?
- Was geschieht mit dieser ‚natürliche' Teleologie (innere Zielstrebigkeit, siehe 1), sobald Kinder und andere Menschen nicht mehr nur an der Natur teilhaben, sondern auch an der Gesellschaft?
- Wie verhält sich das Konzept der ‚Normalisierung' oder sogar die ‚seelische Hygiene', die uns am Ende des Textes nahe gelegt wird (ebd., 203), mit der geradezu hochstilisierten Individualität des Kindes?
- Wo gibt es Handlungsspielräume und Veränderungsmöglichkeiten, sowie Kontingenzen und Brüche, wenn wir in unserem Leben weitgehend durch unsere ‚Leitinstinkte' (ebd., 201) in aller ‚Ewigkeit' nach ‚kosmischen Gesetzen' (ebd., 203) bestimmt werden?
Ein weiterer Vorwurf den sich die Pädagogik MMs gefallen lassen muss, der aber für viele VertreterInnen der Reformpädagogik als solches zutrifft, betrifft die allzu überspitzte Zuschreibungen der Kinder als ‚heilige' Wesen, über deren Erziehung eine neue Gesellschaft oder geradezu ‚neue Menschen' hergestellt werden konnten (u.A. Oelkers 1989, 2003). Bei einer solchen Vorstellung, der auch in diesem Textausschnitt vorhanden ist, handelt es sich um eine pädagogische Utopie, der mit dem Alltag reeller individueller Kinder und deren ErzieherInnen eher wenig bis gar nichts am Hut hat (Montessori 1993, v.a. 203, 211). Instruktiv ist hier die Analyse John Deweys, der zwar (u.A.) über Pestalozzi und Fröbel spricht, qua Kritik aber auch MM hätte meinen können:
"Es
gibt eine Auffassung der Erziehung die auf dem
Entwicklungsgedanken zu beruhen behauptet. Sie nimmt jedoch mit der
einen Hand zurück, was sie mit der anderen gewährt. Entwicklung wird
nicht als ununterbrochenes Wachstum verstanden, sondern als die
Entfaltung latenter Kräfte auf ein bestimmtes Ziel hin. Das Ziel wird
als Vollendung, als Vollkommenheit betrachtet. (...) [Dieses]
Ziel der Vollkommenheit (...) liegt weit in der Ferne, so
weit ausser uns, dass es genau genommen unerreichbar bleibt. Wenn es
für die gegenwärtige Führung verfügbar sein soll, muss es in irgend
etwas anderes übersetzt werden, das an seine Stelle tritt. Sonst wären
wir gezwungen, alle und jede Äusserung des Kindes als Entfaltung von
innen her und darum geheiligt zu betrachten." (11)
Die Erziehungskonzeption MMs setzt tatsächlich ein solches ‚heiliges' Kind voraus, das sich unter den bestmöglichen Bedingungen quasi aus sich heraus zum höchst denkbaren, nämlich zum ‚neuen', und zugleich ‚normalen' Menschen heranwachsen sollte . Die Übersetzungsleistung von der Dewey spricht, der Transfer maximalistischer Werte auf konkrete Erziehungssituationen, wurde von MM als ‚wissenschaftlicher' Pädagogin nie vollbracht, eben weil sich dieser schlicht und einfach nicht machen lässt. Auch wenn es anzunehmen ist, dass das Spielen mit den exorbitant teuren Montessori-Zylindern und Montessori-Klötzen zugleich toll und lehrreich ist, wird eine vermehrte Einsatz derselben von daher wohl kaum die Welt verändern.
Alderik Visser
Bern, April 2004
Literatur Böhm, Winfried: Maria Montessori. In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.) Klassiker der Pädagogik 2. Von John Dewey bis Paolo Freire. München: Beck, S. 74-88. Depaepe, Marc: Zum Wohl des Kindes? : Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890-1940. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1993 Harrington, Anne: Reenchanted Science. Holism in German Culture from Wilhelm II to Hitler. Princeton: Princeton UP 1999. Hofer, Christine: Maria Montessoris ‘Antropologia pedagogica' – oder: die Erziehung als Hygiene der Menschheit. Bern: Selbstverlag (Liz.Arbeit) 1994. Imelman, Jan-Dirk & Wilna Meijer: De Nieuwe School gisteren en vandaag. Amsterdam / Brussel: Elsevier 1986. Knoblauch, Hubert: Religionssoziologie. Berlin/New York: de Gruyter 1998. Leenders, Helène: Montessori en fascistisch Italië. Een receptiegeschiedenis. Baarn : INTRO, 1999. (dt. Ausgabe: Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus. Bad Heilbrunn: Klinghardt 2001) Montessori, Maria: Kinder sind anders. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 187-211 (Italienisches Original 1938, herausgegeben 1950). Oelkers, Jürgen, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim/Basel: Juventa Verlag 1989. Oelkers, Jürgen: Reformer der Erziehung. in: Tenorth, Heinz-Elmar (Hrsg.) Klassiker der Pädagogik 2. Von John Dewey bis Paolo Freire. München: Beck, S. 7 – 25. Rombouts, Frater. S.: Historiese Pedagogiek III: de oude en de nieuwe school vooral in Nederland. Tilburg: Drukkerij van het R.K. Jongensweeshuis 1926. Schwegman, Marjan: Maria Montessori, 1870 – 1952. Kind van haar tijd, vrouw van de wereld. Amsterdam: Amsterdam UP 1999. (dt. Ausgabe: Maria Montessori 1870 – 1952. Kind ihrer Zeit, Frau von Welt. Darmstadt: WBV 2000) Visser, Alderik: Die Evolution der Gesinnung. Ethische Gesellschaften in Europa und den U.S.A. zwischen Wissenschaft und Religion (etc.). In: Rülcker, Tobias, Jürgen Oelkers (Hrsg.) Politische Reformpädagogik. Bern (etc.): Peter Lang 1998, S. 223 - 247. |
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Noten 1) Wobei es wohlbemerkt auch sehr früh schon KritikerInnen gab. V.a. von religiöser Seite wurde MM vorgeworfen, sie stütze sich zu einseitig auf die Naturwissenschaft, und lehne die Lehre der Erbsünde ab. Andere Kritikpunkte waren (und sind) MM's intellektualistischer (‚kopflastiger') Unterrichtsansatz und dessen ausschliesslich individuelle Ausrichtung. Zudem hat die Pädagogik MMs einen ‚blinden Fleck' für die kindliche Phantasie, sowie für Sexualität und Geschlechtsunterschiede (Rombouts 1927; Imelman &Meijer 1986). 2) Diese Sammlung der Vorlesungen über pädagogische Anthropologie die MM 1904-1908 in Rom hielt wurden bezeichnenderweise kaum, nämlich nur auf Englisch übersetzt. 3) Was gleich einer der Gründe dafür ist, dass die Pädagogik MMs aus heutiger Sicht sehr problematisch ist: Sie beharrte bis zum Tode auf Vorstellungen aus ihrer Studienzeit, solche welche spätestens seit den 1930rn als definitiv überholt galten. 4) Am Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten (v.a.) Mediziner und Psychologen eine Wissenschaft der Kindheit, die sog. Pädologie zu gründen. In der besten Tradition des Positivismus wussten sie, Montessori inklusive, nicht viel mehr zu tun, als die Kinder und ihre Körper ausgiebig zu beobachten und zu messen. Mangels brauchbare Resultate verschwand die Pädologie als Wissenschaft, legte aber das Fundament für die (empirische) Kinder- und Jugendpsychologie (dazu v.a. Depaepe 1993) 5) Was aber weniger bei Steiner der Fall ist, ist seine Anthroposophie doch gedacht als eine ‚eingedeutschte' Theosophie, mit wesentlich mehr christliche Elemente, sowie Rückgriffe auf die germanisch-nordische Mythologie. 6) Die aus der Tradition des Neuplatonismus und der Hermetik stammt. Der Gedanken einer Parallellie von Mikrokosmos und Makrokosmos wurde dann via die Alchimisten und Freimaurern den TheosophInnen und heutigen EsoterikerInnen überliefert. Zudem gelangte dieser Gedanken über die sog. ‚romantische' Biologie in solche unterschiedliche Wissenschaften wie die Pädagogik, die Soziologie und (bis auf Heute) die Ökologie. Nebst Steiner und Montessori bedienten sich viele ReformpädagogInnen dieses organologischen Modell, darunter Ellen Key, Georg Kerschensteiner, u.v.m. 7) Womit nicht gesagt ist, dass MM eine Faschistin war, wohl aber, dass es für sie u.a. durch dieses Konzept sehr leicht fiel, sich jeder politischen Situation und jedem Publikum anzupassen. Für eine differenzierte Auseinandersetzung über MM und den Faschismus, siehe v.a. Leenders 1999 und Schwegmann 1999. 8) U.a. weil die Montessoribewegung fast ausschliesslich eine Bewegung der (höheren) Mittelschichten war und ist, was eine sinnvolle Vergleichung mit der ‚Regelschule' fast verunmöglicht. Auch von den Ausnahmen, etwa den vielen öffentlichen Montessorischulen Amsterdams, konnte nie belegt worden, dass sie signifikant bessere Schulleistungen oder gar ‚bessere Menschen' liefern würden. 9) Der Arbeitsbegriff MMs ähnelt zwar der marxistische Auffassung des homo faber , greift aber wahrscheinlich zurück auf die sog. Arbeitskurve des umstrittenen Psychiaters Emil Kraepelin (vgl Oelkers 2003) 10) ‚Esoterisch' ist formell jenes Wissen, das nach innen gerichtet ist, also nur einer Gruppe von Eingeweihten zur Verfügung steht und somit geschlossen und definitiv ist. Wissenschaft versteht sich, zumindest in demokratischen Gesellschaften, als exoterisches, d.h. offenes, überprüfbares und prinzipiell vorläufiges Wissen. 11) Dewey, John: Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz 1993, S. 83 |
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